Mathe für Nicht-Freaks: Mittelwertsatz

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Der Mittelwertsatz ist einer der zentralen Sätze der Differentialrechnung und besagt (grob gesprochen), dass die Steigung der Sekante zwischen zwei verschiedenen Punkten einer differenzierbaren Funktion irgendwo zwischen diesen beiden Punkten als Ableitung angenommen wird. So verknüpft der Mittelwertsatz die Sekantensteigung mit der Ableitung einer Funktion. Globale Eigenschaften, die mit Hilfe der Sekantensteigung ausgedrückt werden können, sind so mit Hilfe des Mittelwertsatzes auf Eigenschaften der Ableitung zurückführbar. Im Abschnitt „Schrankensatz“ werden wir eine nützliche Anwendung untersuchen. Weitere folgen dann in den Kapiteln „Kriterium für Konstanz und Monotoniekriterium“, „Ableitung und lokale Extrema“ und „Regel von L'Hospital“. Auch der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung basiert auf dem Mittelwertsatz.

Motivation

Datei:Mittelwertsatz der Differentialrechnung - Erklärung und Beispiele.webm Wir haben uns bereits mit dem Satz von Rolle beschäftigt. Zur Wiederholung: Der Satz von Rolle besagt, dass es für jede stetige Funktion f:[a,b], die in (a,b) differenzierbar ist und für die f(a)=f(b) gilt, ein Argument ξ(a,b) geben muss, welches f(ξ)=0 erfüllt:

Skizze zum Satz von Rolle
Skizze zum Satz von Rolle

Wie können wir diesen Satz für den Fall f(a)f(b) verallgemeinern? Muss die Ableitung f(ξ) für ein ξ(a,b) auch einen bestimmten Wert annehmen? Zunächst fällt auf, dass f(ξ) nicht zwangsläufig 0 sein muss:

Image 1 about the mean-value theorem
Image 1 about the mean-value theorem

Überlegen wir uns nochmal, wie die Situation beim Satz von Rolle war. Zum einen ist die Steigung der Tangente an den Graphen von f in (ξ,f(ξ)) gleich f(ξ)=0. Zum anderen ist aber auch die Steigung der Sekante durch die beiden Randpunkte (a,f(a)) und (b,f(b)) von f gleich f(b)f(a)ba=0, da f(a)=f(b) und damit f(b)f(a)=0 ist. Die Sekante zwischen den Punkten (a,f(a)) und (b,f(b)) und die Tangente im Punkt (ξ,f(ξ)) liegen damit parallel:

figure 2 about mean-value heorem
figure 2 about mean-value heorem

Sei nun allgemeiner f(a)f(b). Betrachten wir die Sekantensteigung f(b)f(a)ba zwischen den Punkten (a,f(a)) und (b,f(b)). Diese ist ungleich Null und entspricht der mittleren Steigung von f im Intervall [a,b]. Fassen wir beispielsweise die Funktion als Ortsfunktion eines Autos in Abhängigkeit von der Zeit auf, so entspricht die mittlere Steigung der Durchschnittsgeschwindigkeit v des Autos in der Zeit von a bis b.

Wenn das Auto zum Zeitpunkt a schneller als v fährt (sprich: Die Ableitung f(a) ist größer als die Sekantensteigung f(b)f(a)ba), so muss es bis zum Zeitpunkt b Zeiten gegeben haben, an denen es langsamer als v gefahren ist, sonst kann es die Durchschnittsgeschwindigkeit v nicht erreichen. Bei einem Beschleunigungs- oder Bremsvorgang nimmt das Auto alle Geschwindigkeiten zwischen Anfangs- und Endgeschwindigkeit an und springt nicht einfach von der Anfangs- auf die Endgeschwindigkeit (hier nehmen wir an, dass die Geschwindigkeitsfunktion stetig ist). Da das Auto mal schneller und mal langsamer als v war, muss es einen Zeitpunkt ξ geben, an dem es genau die Geschwindigkeit v hat. Analog können wir argumentieren, wenn das Auto zum Zeitpunkt a langsamer als v fährt. Für unsere Funktion f bedeutet das, dass es tatsächlich ein ξ(a,b) geben muss mit v=f(ξ)=f(b)f(a)ba. Dies ist die Aussage des Mittelwertsatzes:

Image 3 about the mean-value theorem
Image 3 about the mean-value theorem

Es scheint also ein ξ(a,b) mit f(ξ)=f(b)f(a)ba zu geben. Diese Intuition wollen wir im Folgenden zu einem Satz formen und formal korrekt beweisen. In unserer Argumentation haben wir beispielsweise verwendet, dass die Ableitung stetig ist. Nun muss die betrachtete Funktion nicht stetig differenzierbar sein. Dass aber auch in diesem Fall der Mittelwertsatz erfüllt ist, werden wir im Beweis zeigen.

Mittelwertsatz

Illustration zum Mittelwertsatz: Sei f:[a,b] eine Funktion, die auf (a,b) ableitbar ist. Die Sekante von f zwischen den Stellen a und b wird als Tangentensteigung an mindestens einer Stelle c(a,b) angenommen.

Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung ist eine Verallgemeinerung des Satzes von Rolle und lautet wie folgt:

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Satz

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Hinweis

Beweis

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Lösungsweg

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Beweis

Äquivalenz von Mittelwertsatz und Satz von Rolle

Der Mittelwertsatz und der Satz von Rolle sind sogar äquivalent. Um dies zu zeigen, müssen wir einerseits aus dem Mittelwertsatz den Satz von Rolle folgern und andererseits aus dem Satz von Rolle den Mittelwertsatz beweisen. Letzteres haben wir aber bereits im Beweis dieses Kapitels getan, sodass wir nur noch vom Mittelwertsatz auf den Satz von Rolle schließen müssen.

Sei f:[a,b] eine stetige Funktion mit a<b und auf (a,b) differenzierbar. f ist also eine Funktion, auf die der Mittelwertsatz anwendbar ist. Weiterhin gelte f(a)=f(b), damit auch alle Voraussetzungen des Satzes von Rolle gegeben sind. Nach dem Mittelwertsatz existiert nun ein ξ(a,b) mit f(ξ)=f(b)f(a)ba=0, denn mit f(a)=f(b) ist f(a)f(b)=0. Es gibt also tatsächlich ein ξ(a,b) mit f(ξ)=0, was genau die Aussage des Satzes von Rolle ist. Damit sind der Mittelwertsatz und der Satz von Rolle äquivalent.

Übungsaufgabe

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Aufgabe

Anwendung: Beweis von Ungleichungen

Mit Hilfe des Mittelwertsatzes lassen sich häufig nützliche Ungleichungen beweisen. Der Trick dabei ist, zunächst den Mittelwertsatz auf eine Hilfsfunktion (die oftmals auf einer Seite der Ungleichung steht) anzuwenden. Anschließend schätzen wir dann den Ausdruck f(ξ) passend ab.

Beispielaufgabe: Beweis einer Ungleichung

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Aufgabe

Ungleichung zum Logarithmus

Für alle x>1 ist die Ungleichung 11x<ln(x)<x1 erfüllt.

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Aufgabe

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Hinweis

Anwendung: Der Schrankensatz Vorlage:Anker

Definition und Beweis des Schrankensatzes

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Satz

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Beweis

Lipschitz-Variante des Schrankensatz

Lipschitz-Variante des Schrankensatz: Eine differenzierbare Funktion mit beschränkter Ableitung ist Lipschitz-stetig, wobei als Lipschitz-Konstante das Supremum der Ableitungsbeträge gewählt werden kann.

Die Ungleichung |f(x)f(y)|L|xy| für alle x,y[a,b] besagt, dass f Lipschitz-stetig mit Lipschitz-Konstante L0+ ist. Daher können wir den Schrankensatz auch folgendermaßen formulieren:

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Satz Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Beispiel

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Frage

Praxis: Geschwindigkeitskontrolle mit Lichtschranken

Abbildung einer Lichtschranke

Der ein oder andere, der schon einmal geblitzt worden ist, ist unbewusst mit dem Mittelwertsatz in Berührung gekommen. Zumindest wenn es sich um einen Blitzer Lichtschranken-Technik gehandelt hat. Stell dir vor, du fährst mit dem Auto auf einer Landstraße. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt vmax=100kmh. Die zurückgelegte Strecke deines Autos ist durch die differenzierbare Ortsfunktion s gegeben, die von der Zeit t abhängt. Dabei entspricht die Ableitung der Ortsfunktion zum Zeitpunkt t der momentanen Geschwindigkeit, d.h. s(t)=v(t). Bei einer Geschwindigkeitsmessung mit Lichtschranken durchfährt man zwei Lichtschranken, die an zwei festen Streckenpunkten s0 und s1 platziert sind. Passierst man die beiden Lichtschranken zu den Zeitpunkten t0 und t1, so beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen diesen beiden Messpunkten

Vorlage:Einrücken

Da die Ortsfunktion s:[t0,t1] die Voraussetzungen des Mittelwertsatzes erfüllt, gibt es einen Zeitpunkt t~(t0,t1) mit

Vorlage:Einrücken

Die gemessene Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen den beiden Schranken muss man also mindestens zu einem Zeitpunkt gefahren sein. Ist nun v>100+tol, wobei tol eine gewisse Toleranzgrenze ist (üblicherweise 3%), so wird man geblitzt und zur Kasse gebeten! Vorlage:Smiley Um Fehlmessungen zu vermeiden, werden in der Praxis mehr als zwei Lichtschranken verwendet und mehr als eine Messung durchgeführt. Das Prinzip bleibt aber dasselbe. Eine weitere Technik zur Geschwindigkeitsmessung beruht im Übrigen auf dem Doppler-Effekt und verwendet ein Radar zur Ermittlung der Geschwindigkeit.

Zweiter Mittelwertsatz

Es gibt eine weitere Variante des Mittelwertsatzes, welcher zweiter oder auch verallgemeinerter Mittelwertsatz genannt wird. Deswegen wird der „normale“ Mittelwertsatz auch erster Mittelwertsatz genannt. Wir werden sehen, dass auch der zweite Mittelwertsatz aus dem Satz von Rolle folgt. Für die zweite Variante benötigen wir neben unserer Funktion f noch eine Funktion g, die ebenfalls die Voraussetzungen des Mittelwertsatzes erfüllt. Der zweite Mittelwertsatz ist nützlich, da sich aus ihm die Regel von L'Hospital herleiten lässt.

Satz und Beweis

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Satz

Aufgabe zum zweiten Mittelwertsatz

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Aufgabe

Bemerkungen

Bemerkung 1: Offensichtlich erhalten wir für g(x)=x den ersten Mittelwertsatz aus dem Zweiten. Den Zweiten haben wir aber aus dem Satz von Rolle gefolgert. Da der erste Mittelwertsatz und der Satz von Rolle äquivalent sind, folgt also auch der zweite Mittelwertsatz aus dem Ersten. Die beiden Mittelwertsätze sind daher äquivalent.

Bemerkung 2: Lassen wir die Voraussetzung g(x)0 für alle x(a,b) weg, so gilt der zweite Mittelwertsatz immer noch in der Form

Vorlage:Einrücken

Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Frage

Übersicht der Folgerungen aus den Mittelwertsätzen

In der Einleitung hatten wir schon erwähnt, dass sich aus den Mittelwertsätzen zahlreiche wichtige Resultate folgern lassen.

  • Wir haben den Schrankensatz für differenzierbare Funktionen mit beschränkter Ableitung bewiesen. Mit diesem lässt sich die Lipschitz-Stetigkeit zahlreicher Funktionen beweisen.
  • Eine weitere praktische Folgerung ist das Kriterium für Konstanz. Dieses besagt, dass eine Funktion konstant ist, falls f0 ist (Die Ableitung ist konstant Null). Damit können wir den Identitätssatz der Differentialrechnung herleiten. Dieser sagt aus, dass sich zwei Funktionen mit identischer Ableitung lediglich um eine Konstante unterscheiden. Er ist ein wesentlicher Bestandteil des Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnung. Eine weitere Konsequenz aus dem Kriterium für Konstanz ist die Charakterisierung der Exponentialfunktion über die Differentialgleichung f=f.
  • Ebenso lässt sich mit dem Mittelwertsatz das Monotoniekriterium für differenzierbare Funktionen beweisen. Dieses stellt einen Zusammenhang zwischen dem Monotonieverhalten der Funktion und dem Vorzeichen der Ableitungsfunktion her. Genauer ist f genau dann monoton steigend (bzw. fallend), falls f0 (bzw. f0) ist. Daraus kann man ein hinreichendes Kritrerium für die Existenz eines Extremums einer Funktion in einem Punkt herleiten.
  • Aus dem zweiten Mittelwertsatz können die Regeln von L'Hospital gefolgert werden. Mit deren Hilfe lassen sich zahlreiche Grenzwerte von Quotienten zweier Funktionen mit Hilfe der Ableitung berechnen.

Die aufgeführten Punkten sind im folgenden Übersichtsdiagramm zusammengefasst:

diagramm about the corollars of the mean value theorem
diagramm about the corollars of the mean value theorem

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