Varianten der klassischen Mechanik/ Lagrange'sche Mechanik

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Das d'Alembert'sche Prinzip führt im Zusammenhang mit Koordinatentransformationen "beinahe von selbst" zu einer weiteren Variante der klassischen Mechanik, die nach dem Physiker Lagrange benannt ist.

Lagrange'sche Mechanik und d'Alembert'sches Prinzip

In diesem Kapitel soll diskutiert werden, wie sich die virtuelle Arbeit unter der Koordinatentransformation


x=x(q,t)


verhält. Hierzu setzen wir in die Gleichung für die virtuelle Arbeit (p˙F)δx=0 die virtuelle Verschiebung ausgedrückt in den neuen Koordinaten, δx=xqδq, sowie p=mx˙ ein:


0=(Fp˙)δx(q,t)=(Fxqxqddt(mx˙))δq.


Hierin wenden wir auf den zweiten Summanden (der letzte Gleichung rechts) die Produktregel der Differenzialrechnung an:


xqddt(mx˙)=ddt(mx˙xq)mx˙x˙q.


Auf der rechten Seite wird dann erneut die Produktregel angewandt:


mx˙x˙q=q12mx˙2=qT,


wodurch ein Term mit der Ableitung der kinetischen Energie T nach der neuen Koordinate q entsteht. Auch xq lässt sich weiter umformen: Mit Hilfe der Kettenregel der Differenzialrechnung können wir nämlich folgern:


x˙=ddtx(q,t)=x(q,t)qq˙+x(q,t)t=v(q,q˙,t)x˙q˙=xq,


woraus wir zum Einen ablesen können, dass x˙ nicht nur eine Funktion der Zeit t und der neuen Koordinate q ist, wie dies ja auch bei x der Fall ist, sondern dass x˙ auch noch von der Zeitableitung der neuen Koordinate, q˙, abhängt. Aus dieser Tatsache folgt das sog. "Punktekürzen": x˙q˙=xq. Zum Andern können wir jetzt dadurch den folgenden Term (erneut mittels der Produktregel) umformen:


mx˙xq=mx˙x˙q˙=q˙12mx˙2=q˙T.


Zusammenfassend dürfen wir also jetzt Folgendes schreiben:


xqddt(mx˙)=ddtq˙TqT.


Bei nicht verschwindender Variation δq gilt daher:


ddtq˙TqT=Fxq mit T(q,q,˙t)=12mx˙2.


Wegen x˙=v(q,q˙,t) ist auch die kinetische Energie T im Allg. eine Funktion von q˙ und nicht nur von q bzw. t.

Wir werden wie beim Federpendel mit Stokes'schem Reibungsterm annehmen, dass sich die Kraft F aus einer Potentialkraft xV(x,t) und einer Nicht-Potentialkraft f' zusammensetzt:


F=xV+f.


Man beachte, dass wir es zulassen, dass das Potential V(x,t) sogar explizit von der Zeit abhängt, eine Abhängigkeit von x˙ schließen wir jedoch weiterhin aus. Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass in diesem Kapitel xV statt ddxV wie in den Kapiteln zuvor verwendet wurde: Hiermit tragen wir nochmals der Tatsache Rechnung, dass V neben x auch von t explizit abhängen darf.

Weil wir x ja auf die neue Koordinate q transformieren, werde aus V als Funktion der alten Koordinate unter dieser Transformation eine Funktion U der neuen Koordinate:


V(x,t)=V(x(q,t),t)=U(q,t).


Mit dieser Nomenklatur und der Kettenregel folgern wir


xV(x(q,t),t)xq=qU(q,t),


sodass nun


ddtq˙TqT=Fxq=ddqU(q,t)+fxq


geschrieben werden kann. Da das Potential U in der neuen Koordinate nicht explizit von q˙ abhängt, gilt natürlich: q˙U(q,t)=0. Dadurch können wir aber die letzte Gleichung mit Hilfe der sog. "(natürlichen) Lagrangefunktion"


L(q,q˙,t)=T(q,q,˙t)U(q,t)


ausdrücken:


ddtq˙LqL=fxq.


Diese Gleichung wird auch "Euler-Lagrange-Gleichung" genannt. Die Koordinate q wird gerne als verallgemeinerte (oder generalisierte) Koordinate bezeichnet. Zu ihr gesellt sich der verallgemeinerte (oder generalisierte bzw. kanonische) Impuls πq=q˙L.

Ob diese Gleichung auch wirklich auf Bewegungsgleichungen führt, möchten wir wieder am Beispiel des gedämpften harmonischen Oszillators untersuchen. Hierzu verwenden wir als erstes die einfachste Koordinatentransformation, die uns in den Sinn kommt: Dies dürfte wohl die identische Transformation x(q,t)=q(t) sein, so dass xq=1 gilt. Die (natürliche) Lagrangefunktion L nimmt dann wegen U(q,t)=V(x,t)=12mω2x2 die folgende Form an:


L(x,x˙,t)=12mx˙212mω2x2.


Die zugehörige Euler-Lagrange-Gleichung


(ddtx˙x)L(x,x˙,t)=f=mγx˙


führt dann wegen der Stokes'schen Reibungskraft f=mγx˙ tatsächlich auf die gewohnte Bewegungsgleichung:


mx¨+mω2x=mγx˙.


Der verallgemeinerte Impuls fällt hier übrigens mit dem (Newton'schen) Impuls p zusammen: πx=x˙L=mx˙.

Im Falle der Koordinatentransformation


x=cexp(q)x˙=q˙x,xq=x,


aus dem vorangegangenen Kapitel erhalten wir für die (natürliche) Lagrangefunktion hingegen


L(q,q˙,t)=12mx˙2(q,t)12mω2x2(q,t)=12mc2exp(2q)(q˙2ω2).


Die Euler-Lagrange-Gleichung lautet daher


mc2exp(2q)(q¨+q˙2+ω2)=(ddtq˙q)L(q,q˙,t)=fxq=mγc2exp(2q)q˙,


also q¨+q˙2+γq˙+ω2=0, was wir auch als transformierte Bewegungsgleichung bereits kennen. Der verallgemeinerte Impuls πq=q˙L=mc2exp(2q)q˙ ist in diesem Fall nicht mehr gleich dem Impuls p: p=mx˙=mcexp(q)q˙.

Der Grund, warum wir hier der Lagrangefunktion das Attribut "natürlich" hinzugefügt haben, wird im nächsten Kapitel deutlich, in dem von sog. "Eichtransformationen" die Rede sein wird.

Eichtransformationen

Die (natürliche) Lagrangefunktion L(q,q˙,t)=T(q,q,˙t)U(q,t) ist nicht die einzige, die auf die Bewegungsgleichung (ddtq˙q)L=fxq führt. Sie lässt sich nämlich noch mit einer beliebigen Funktion der Form ddtM(q,t) "eichen", weil (ddtq˙q)ddtM(q,t)=0 ist. Demzufolge führt die Funktion L~(q,q˙,t)=L(q,q˙,t)+ddtM(q,t) auf dieselbe Bewegungsgleichung wie L:


(ddtq˙q)L~(q,q˙,t)=(ddtq˙q)(L(q,q˙,t)+ddtM(q,t))=(ddtq˙q)L(q,q˙,t)=fxq.


Um dies zu glauben, müssen wir aber noch zeigen, dass tatsächlich (ddtq˙q)ddtM(q,t)=0 gilt:


ddtq˙ddtM(q,t)=ddtq˙(Mq(q,t)q˙+Mt(q,t))=ddtMq(q,t)=qddtM(q,t).


Der letzte Schritt in dieser Gleichung ist subtiler als man vielleicht zunächst annehmen möchte, denn es wird dort nicht die partielle Ableitung q mit der gleichermaßen partiellen Ableitung t vertauscht, sondern q mit der totalen Ableitung ddt. Ersteres ist bei entsprechenden (stetigen) Differenzierbarkeiten (die hier immer vorausgesetzt sein sollen) der Funktion M(q,t) unproblematisch, letzteres ist jedoch nicht selbstverständlich, aber hier gültig:


ddtMq(q,t)=2Mq2(q,t)q˙+2Mtq(q,t)=q(Mq(q,t)q˙+Mt(q,t))=qddtM(q,t).


Um dies alles zu verifizieren, wählen wir z.B. M(q,t)=Aqn mit beliebigem n=1,2,3,... (und einem in q und t konstanten Faktor A), woraus ja ddtM(q,t)=Anqn1q˙ folgt. Auf Letzteres wenden wir die Ableitungen ddtq˙ an:


ddtq˙ddtM(q,t)=ddtq˙Anqn1q˙=ddtAnqn1=An(n1)qn2q˙=qAnqn1q˙=qddtM(q,t).


Daher führt L~(q,q˙,t)=L(q,q˙,t)+Anqn1q˙ auf dieselbe Bewegungsgleichung wie L(q,q˙,t). Der verallgemeinerte Impuls π~q=q˙L~=πq+Anqn1 ist jedoch nicht gleich πq=q˙L. Dies gilt auch ganz allgemein, weil ja


q˙ddtM(q,t)=q˙(Mq(q,t)q˙+Mt(q,t))=Mq(q,t)


ist und somit der verallgemeinerte Impuls zu π~q=q˙L~=πq+Mq(q,t) wird.

Zulässige Koordinatentransformationen

Haben wir sogar zwei Sätze von neuen Koordinaten, nämlich sowohl q als auch Q, dann soll die Transformation zwischen diesen Koordinaten q=q(Q,t) bzw. Q=Q(q,t) lauten. Der Zusammenhang zwischen der alten Koordinate x und der einen neuen Koordinate q, d.h. x=x(q,t), führe auf folgende Euler-Lagrange-Gleichung:


fxq=(ddtq˙q)(L(q,q˙,t)+ddtM(q,t))=(ddtq˙q)L(q,q˙,t),


während der Zusammenhang x=x(Q,t) zwischen x und der anderen neuen Koordinate Q auf die Bewegungsgleichung


fxQ=(ddtQ˙Q)(L¯(Q,Q˙,t)+ddtM¯(Q,t))=(ddtQ˙Q)L¯(Q,Q˙,t)


führe. Gelte zusätzlich noch wie folgt der Zusammenhang zwischen den beiden Lagrangefunktionen L und L¯ (die ja beide jeweils noch mit den Funktionen ddtM(q,t) bzw. ddtM(q,t) geeicht sein können, was wir hier auch der größeren Allgemeingültigkeit wegen annehmen möchten):


L(q,q˙,t)+ddtM(q,t)=L(q(Q,t),q˙(Q,t),t)+ddtM(q(Q,t),t)=
L¯(Q(q,t),Q˙(q,t),t)+ddtM¯(Q(q,t),t)=L¯(Q,Q˙,t)+ddtM¯(Q,t).


Man kann sich nun die Frage stellen, welche Eigenschaften die Transformation zwischen den beiden neuen Koordinaten q bzw. Q besitzen muss, damit unsere Forderungen auch alle erfüllt sind. Diese Forderungen bedeuten ja nur, dass die Beschreibung des betrachteten Systems in der einen neuen Koordinate q mit der Beschreibung in der anderen neuen Koordinate Q gleichwertig ist. Der physikalische Gehalt muss unabhängig von der getroffenen Koordinatenwahl sein, so dass die (beliebig geeichten) Lagrangefunktionen in beiden neuen Koordinatensystemen gleich sind und sich auch an der Form der Bewegungsgleichungen - d.h. den Euler-Lagrange-Gleichungen - nichts ändert. Die Antwort auf jene Frage versuchen wir auf folgendem Weg zu erhalten:


fxq=(ddtq˙q)L(q,q˙,t)=(ddtq˙q)(L(q,q˙,t)+ddtM(q,t))=
(ddtq˙q)(L¯(Q(q,t),Q˙(q,t),t)+ddtM¯(Q(q,t),t)).


Als erstes müssen wir uns darüber Gedanken machen, was Q˙(q(t),t) eigentlich bedeutet, indem wir die totale Zeitableitung auf Q mittels Kettenregel ausdrücken: Q˙(q(t),t)=ddtQ(q(t),t)=Qq(q,t)q˙+Qt(q,t)=V(q,q˙,t). Dadurch erkennen wir, dass die totale Zeitableitung von Q nicht nur eine Funktion von q und t ist, wie dies ja bei Q der Fall ist, sondern auch noch zusätzlich explizit von q˙ abhängt. Dies drücken wir im Folgenden durch Q˙(q,t)=V(q,q˙,t) aus, wobei hier V für die zu Q gehörende Geschwindigkeit (und analog v für die Geschwindigkeit q˙=v(Q,Q,t˙) von q) stehen soll (und somit hier nicht die potenzielle Energie bedeute, die wir in einem Kapitel zuvor gleichermaßen mit V bezeichnet hatten). Dadurch verschwindet die partielle Ableitung von Q˙ nach q˙ nicht, sondern ergibt Q˙q˙=Vq˙=Qq (was ein erneutes Beispiel für das oft wohl eher scherzhaft genannte "Punktekürzen" darstellt).

Dann betrachten wir zunächst


(ddtq˙q)L¯(Q(q,t),Q˙(q,t),t)=(ddtq˙q)L¯(Q(q,t),V(q,q˙,t),t)=ddt(L¯Q˙Vq˙)L¯QQqL¯Q˙Vq=
ddt(L¯Q˙Qq)L¯QQqL¯Q˙Vq=QqddtL¯Q˙+L¯Q˙ddtQqL¯QQqL¯Q˙Vq.


Neben Ketten- und Produktregel der Differenzialrechnung haben wir zusätzlich noch das "Punktekürzen" angewandt. Weil außerdem noch

Q˙q(q(t),t)=Vq(q,q˙,t)=2Qq2(q,t)q˙+2Qqt(q,t)=ddtQq(q(t),t) gilt, erhalten wir:


(ddtq˙q)L¯(Q(q,t),Q˙(q,t),t)=Qq[(ddtQ˙Q)L¯(Q,Q˙,t)].


Jetzt müssen wir noch den Term (ddtq˙q)ddtM¯(Q(q,t),t) untersuchen. Wegen


ddtM¯(Q(q,t),t)=M¯Q(Q(q,t),t)Q˙(q,t)+M¯t(Q(q,t),t)


und


Q˙(q,t)=Qqq˙+Qt


erhalten wir


q˙ddtM¯(Q(q,t),t)=M¯Q(Q(q,t),t)Qq(q,t).


Wenden wir auf Letzteres die totale Zeitableitung an, so folgt


ddtq˙ddtM¯(Q(q,t),t)=[2M¯Q2(Q(q,t),t)Q˙(q,t)+2M¯Qt(Q(q,t),t)]Qq(q,t)+M¯Q(Q(q,t))ddtQq(q,t).


Dies vergleichen wir mit


qddtM¯(Q(q,t),t)=2M¯Q2(Q(q,t),t)Qq(q,t)Q˙(q,t)+M¯Q(Q(q,t))Q˙q(q,t)+2M¯Qt(Q(q,t),t)Qq(q,t)


und müssen dabei feststellen, dass beide Terme gleich sind, weil ddtQq(q,t)=qddtQ(q,t)=Q˙q(q,t) gilt, d.h.


(ddtq˙q)ddtM¯(Q(q,t),t)=0.


Insgesamt können wir also folgern, dass


0=fxq(ddtq˙q)(L(q,q˙,t)+ddtM(q,t))=fxq(ddtq˙q)(L¯(Q(q,t),Q˙(q,t),t)+ddtM¯(Q(q,t),t))=
fxq(ddtq˙q)L¯(Q(q,t),Q˙(q,t),t)=Qq[fxQ(ddtQ˙Q)L¯(Q,Q˙,t)]=Qq[fxQ(ddtQ˙Q)(L¯(Q,Q˙,t)+ddtM¯(Q(q,t),t))]


sein muss. Aus der Gültigkeit von fxq=(ddtq˙q)(L(q,q˙,t)+ddtM(q,t)) ergibt sich also nur dann die Gültigkeit von fxQ=(ddtQ˙Q)(L¯(Q,Q˙,t)+ddtM¯(Q,t)), wenn Qq0 ist. Nach dem sog. mathematischen "Satz über implizite Funktionen" bedeutet diese Bedingung, dass sich die Abbildung q=q(Q,t) zu Q=Q(q,t) umkehren lässt, was wir ja eingangs in diesem Kapitel einfach stillschweigend vorausgesetzt haben.

Extremalprinzip für die Lagrangefunktion

Nun soll gezeigt werden, dass sich die Euler-Lagrange-Gleichung auch aus dem sog. "Wirkungsintegral" (wobei die sog. "Wirkung" W die Dimension Energie mal Zeit besitzt)


W=t0t1dt[L(q(t),q˙(t),t)+ddtM(q(t),t)]


durch Variation nach q gewinnen lässt, wenn die Variation von q(t) auf dem Rand des Zeitintervalls verschwindet, d.h. wenn δq(t0)=δq(t1)=0 gilt. Hierzu variieren wir also die Wirkung W nach q und beachten, dass die Variation δ mit dem Integral über die Zeit vertauscht, da δt=0. Gleichermaßen vertauscht sie mit Zeitableitungen, was wir einmal bei der Variation der Geschwindigkeit q˙ betrachten:


δq˙=ddt(q+δq)dqdt=ddtδq.


Aus der Variation des Wirkungsintegrals erhalten wir beim ersten Summanden des Integranden daher:


δt0t1dtL(q(t),q˙(t),t)=t0t1dtδL(q(t),q˙(t),t)=t0t1dt(Lqδq(t)+Lq˙δq˙(t))=t0t1dt(Lqδq(t)+Lq˙ddtδq(t))


=t0t1dt(LqddtLq˙)δq(t)+Lq˙δq(t)|t0t1=t0t1dt(LqddtLq˙)δq(t)


mittels Vertauschens von Variation und Zeitintegral bzw. Zeitableitung, partieller Integration und der Tatsache, dass die Variationen von q auf dem Rand des Zeitintervalls verschwinden. Für den zweiten Summanden im Integranden von W nutzen wir zusätzlich noch den ersten Hauptsatz der Analysis aus:


δt0t1dtddtM(q(t),t)=δM(q(t1),t1)δM(q(t0),t0)=Mq(q(t1),t1)δq(t1)Mq(q(t0),t0)δq(t0)=0.


Übrig bleibt somit nur noch


δW=t0t1dt(LqddtLq˙)δq(t)=t0t1dtδq(t)[(qddtq˙)(L(q(t),q˙(t),t)+ddtM(q(t),t))],


wobei wir im letzten Schritt ausgenutzt haben, dass ja immer (ddtq˙q)ddtM(q,t)=0 erfüllt ist. Aus der Variation von W folgt also die Euler-Lagrange-Gleichung, wenn δW=0 gilt, d.h. die Wirkung W ein Extremum annimmt.

Außerdem können wir das Extremalprinzip auch nutzen, um zu klären, wann eine sog. »Punkttransformation« Q=Q(q,t) »zulässig« ist: Hierunter verstehen wir ja eine solche Transformation, die umkehrbar ist und die Euler-Lagrange-Gleichung mit einer zu Q gehörenden (geeichten) Lagrangefunktion L¯(Q,Q˙,t)+ddtM(Q,t) invariant lassen, so dass also wieder 0=(ddtQ˙Q)(L¯(Q,Q˙,t)+ddtM(Q,t)) gilt. In einem vorangegangenen Kapitel haben wir bereits bewiesen, dass eine solche Transformation Q=Q(q,t), die L¯(Q,Q˙,t)+ddtM(Q,t) in L(q,q˙,t)+ddtM(q,t) überführt (und umgekehrt), die Gleichung


L(q,q˙,t)+ddtM(q,t)=L¯(Q(q,t),Q˙(q,t),t)+ddtM(Q(q,t),t)


erfüllt. Mit Hilfe des Hamilton'schen Extremalprinzips lässt sich dies besonders leicht zeigen. Dazu gehen wir von der letzteren Gleichung aus und verwenden sie in


0=δ[q]t0t1dt[L(q(t),q˙(t),t)+ddtM(q(t),t)]=t0t1dtδ[q][L(q(t),q˙(t),t)+ddtM(q(t),t)],


wovon wir ja bereits wissen, dass hieraus die Euler-Lagrange-Gleichung (qddtq˙)(L(q,q˙,t)+ddtM(q,t))=0 folgt. Somit ergibt sich die Gleichung


0=t0t1dtδ[q][L¯(Q(q,t),Q˙(q,t),t)+ddtM(Q(q,t),t)].


Man beachte, dass diese geeichten Lagrangefunktion hier bzgl. q statt Q variiert werden soll. An dieser Stelle machen wir uns aber zu Nutze, dass δQ(q,t)=Qqδq und δQ˙(q,t)=Qqδq˙ gelten müssen. Ersteres können wir z.B. auch in folgendem Term verwenden:


0=t0t1dtδ[q]ddtM(Q(q,t),t)=[δ[q]M(Q(q,t),t)]t0t1=[M¯QQqδq]t0t1=0,


da ja die Variation von q auf dem Rand des Zeitintervalls verschwindet. Insgesamt können wir daher zur Schlussfolgerung gelangen, dass


0=t0t1dtδ[q]L¯(Q(q,t),Q˙(q,t),t)=t0t1dt(ddtQ˙Q)(L¯(Q,Q˙,t)+ddtM(Q,t))Qqδq


gilt. Der Term (ddtQ˙Q)(L¯(Q,Q˙,t)+ddtM(Q,t)) ist aber gleich Null, wenn Qq ungleich Null ist (Im letzten Schritt haben wir zudem unser Wissen darüber ausgenutzt, dass 0=(ddtQ˙Q)ddtM(Q,t) ist). Letzteres ist (nach dem Satz über implizite Funktionen) der Fall, weil die betrachtete Transformation umkehrbar sein soll. D.h. es gilt auch für Q und L¯(Q,Q˙,t)+ddtM(Q,t) wieder die Euler-Lagrange-Gleichung, wodurch unsere Behauptung bewiesen wäre.


Konstanten der Bewegung und Energieerhaltung

Auf die geeichte Lagrangefunktion L~(q,q˙,t)=L(q,q˙,t)+ddtM(q,t), worin L die natürliche Lagrangefunktion bedeuten soll, lassen wir nun die totale Zeitableitung wirken, in der Hoffnung auf diesem Weg Aussagen über Konstanten der Bewegung zu erhalten:


ddtL~(q,q˙,t)=L~q(q,q˙,t)q˙+L~q˙(q,q˙,t)q¨+L~t(q,q˙,t).


Der verallgemeinerte Implus bzgl. L~ lautet ja π~q=q˙L~(q,q˙,t) und die zugehörige Euler-Lagrange-Gleichung ist π~˙q=ddtq˙L~=qL~+fxq. Im Ausdruck für die totale Zeitableitung von L~ können somit L~q˙ durch π~q sowie L~q mittels der Euler-Lagrange-Gleichung ersetzt werden:


ddtL~=π~˙qq˙+π~qq¨fxqq˙+L~t=ddt(π~qq˙)fxqq˙+L~t.


Hierdurch erhalten wir einen Ausdruck für die totale Zeitableitung einer Größe I~(q,q˙,π~q,t)=π~qq˙L~(q,q˙,t):


ddtI~=ddt(π~qq˙L~)=fxqq˙L~t.


Nur dann, wenn die rechte Seite dieser Gleichung Null wird, ist jene neue Größe I~ auch tatsächlich eine Konstante der Bewegung. Doch worum handelt es sich bei dieser Größe überhaupt? Um diese Frage zu klären, setzen wir darin L~ ein und berücksichtigen, dass ddtM(q,t)=Mq(q,t)q˙+Mt(q,t) und daher auch π~q=q˙L~(q,q˙,t)=q˙L(q,q˙,t)+qM(q,t) gelten:


I~=π~qq˙L~=q˙Lq˙+q˙Mq(L+Mqq˙+Mt)=q˙Lq˙LMt=πqq˙LMt,


worin πq den verallgemeinerten Impuls hinsichtlich der natürlichen Lagrangefunktion L bedeuten soll.

Die in I~ auftretende natürliche Lagrangefunktion L(q,q˙,t)=T(q,q,˙t)U(q,t), die sich ja aus der Differenz zwischen kinetischer Energie T und potentieller Energie U zusammensetzt, möchten wir nun dahin gehend spezialisieren, dass darin die kinetische Energie nur noch eine sog. "homogene Funktion zweiten Grades" in q˙ ist, d.h. folgendes gilt: T(λq˙)=λ2T(q˙), was ja z.B. für die kinetische Energie eines freien Teilchens der Masse m oder des Federpendels der Fall ist, da sie dort T(q˙)=12mq˙2 lautet. Für diesen Fall wird es möglich, den Term q˙Lq˙ genauer zu spezifizieren, da Lq˙(q,q˙,t)=q˙(T(q˙)U(q,t))=q˙T(q˙) gilt und jetzt noch die Homogenität zweiten Grades von T ausgenutzt werden kann:


2λT(q˙)=λ(λ2T(q˙))=λT(λq˙)=q˙(λq˙)T(λq˙).


In der somit gewonnenen Gleichung 2λT(q˙)=q˙(λq˙)T(λq˙) setzten wir schließlich noch λ gleich Eins:


2T(q˙)=q˙q˙T(q˙)=q˙Lq˙.


Die Größe I~ ergibt einen Ausdruck, der die Gesamtenergie E=T+U enthält, wenn wir darin die natürliche Lagrangefunktion L=TU sowie die soeben hergeleitete Gleichung einsetzen:


I~=π~qq˙L~=q˙Lq˙LMt=2T(TU)Mt=T+UMt=EMt.


Die Größe I~ ist unter den gewählten Bedingungen gleich der Gesamtenergie, wenn zusätzlich noch die Eichfunktion M nicht explizit von der Zeit abhängt, d.h. M=M(q) gilt. Die Gesamtenergie ist nur dann erhalten, wenn keine Nicht-Potenzialkraft f (wie z.B. eine Reibungskraft) am System wirkt und außerdem tL~ mit L~=L+ddtM(q)=T(q˙)U(q,t)+Mq(q)q˙ verschwindet. Letzteres ist aber nur der Fall, wenn auch die potenzielle Energie U nicht mehr explizit von der Zeit abhängt, d.h. U=U(q).

Diese Aussagen lassen sich alle am Federpendel mit der natürlichen Lagrangefunktion L(q,q˙,t)=12mq˙212mω2q2 verifizieren, in der ja die kinetische Energie eine homogene Funktion zweiten Grades in der Geschwindigkeit ist und wie die potenzielle Energie nicht explizit von der Zeit abhängt. Als Eichfunktion haben wir dort z.B. M(q,t)=Aqn mit beliebigem n=1,2,3,... und einem in q und t konstanten Faktor A verwendet. Da diese Eichfunktion nicht explizit von der Zeit abhängt, d.h. tM=0 gilt, muss die Größe I~ gleich der Gesamtenergie des Systems sein, was wir mittels ddtM(q,t)=Anqn1q˙  ; qM(q,t)=Anqn1, π~q=πq+qM(q,t), πq=mq˙ und L~=L+ddtM(q) leicht nachvollziehen können: I~=π~qq˙L~=12mq˙2+12mω2q2=E. Weil die Lagrangefunktion L~ nicht explizit von der Zeit abhängt, d.h. tL~=0 gilt, muss ddtE=ddtI~=fxqq˙ sein. Für die identische Koordinatentransformation (die wir hier bereits stillschweigend angenommen haben), d.h. xq=1, und einem Stokes'schen Reibungsterm f=mγq˙ erhalten wir für die Zeitableitung der Gesamtenergie wieder ddtE=mγq˙2, deren Gültigkeit wir bereits im Kapitel über Koordinatentransformationen bewiesen haben. Die Gesamtenergie ist also nur erhalten, wenn keine Reibungskraft vorhanden ist, d.h. γ=0 gilt.

Nachdem wir uns schon so viele Gedanken über die Energieerhaltung gemacht haben, stellt sich die Frage, wie es um eventuelle weitere Konstanten der Bewegung steht. Im Kapitel über die Newton'sche Mechanik haben wir ja z.B. noch die Impulserhaltung kennen gelernt. Wir haben dort festgestellt, dass diese gilt, wenn die äußere Kraft F verschwindet (später, bei Mehrteilchensystemen, werden wir sagen: wenn die Summe aller äußeren Kräfte verschwindet). Für die natürliche Lagrangefunktion bedeutet dies aber, dass sie ausschließlich den Term für die kinetische Energie enthält, d.h. L(q,q˙,t)=12mq˙2=L(q˙) gilt, weil dann die potenzielle Energie Null sein muss und auch keine Nicht-Potenzialkraft (wie z.B. die Reibungskraft) auftritt, d.h f=0 ist, so dass sich die Bewegungsgleichung (d.h. die zugehörige Euler-Lagrange-Gleichung) folgendermaßen formulieren lässt:


π˙q=ddtq˙L(q˙)=qL(q˙)=0.


Diese Gleichung lässt sich sehr elementar nach der Zeit integrieren: der verallgemeinerte Impuls πq=mq˙ ist offensichtlich eine zeitliche Konstante. Diese besonders günstige Situation hat sich aus der Tatsache ergeben, dass die (natürliche) Lagrangefunktion nicht mehr explizit von der (verallgemeinerten) Koordinate q abhängt: Man spricht dann auch gerne davon, dass die Lagrangefunktion "zyklisch" in der Koordinate q ist. Es ist daher oft das Ziel, möglichst Koordinatentransformationen x=x(q,t)q=q(x,t) bzw. verallgemeinerte Koordinaten q zu finden, in denen die Lagrangefunktion zyklisch wird.

Beim Betrachten der Lagrangefunktion ist es oft möglich zu erkennen, ob sie sich unter bestimmten Koordinatentransformationen nicht verändert, d.h. darunter invariant bleibt. Beim freien Teilchen mit L(q,q˙,t)=12mq˙2 ist dies z.B. die Transformation q(t,s)=q(t)+sΔq, die eine Translation von q um das s-fache des konstanten Betrages Δq darstellt (wobei auch der Parameter s nicht von der Zeit abhänge): L(q(t,s),q˙(t,s),t)=12mq˙2(t,s)=12mq˙2=L(q(t),q˙(t),t). Die Lagrangefunktion ist in diesem Beispiel offensichtlich unabhängig vom Parameter s, sodass ihre Ableitung danach verschwindet:


0=sL(q,q˙,t)=sL(q(t,s),q˙(t,s),t)=Lqqs+Lq˙q˙s=qsddtLq˙+Lq˙q˙s=ddt(Lq˙q˙s),


wobei wir einmal Lq mit Hilfe der Euler-Lagrange-Gleichung Lq=ddtLq˙ ersetzt haben. Die Größe Lq˙q˙s=const. ist ein Integral der Bewegung und entspricht z.B. beim freien Teilchen dem Impulserhaltungssatz: mq˙Δq=const.. Dies ist der Satz von Emmy Noether, der einen Zusammenhang zwischen Transformationen, unter denen die Lagrangefunktion invariant bleibt, und Konstanten der Bewegung herstellt bzw. die Transformationen diesen zuordnet: Die in diesem Beispiel gefundene Invarianz der Lagrangefunktion unter Translationen der Koordinate q hat auf den Impulserhaltungssatz geführt.