Mathe für Nicht-Freaks: Epsilon-Delta-Kriterium der Stetigkeit
{{#invoke:Mathe für Nicht-Freaks/Seite|oben}}
Das Epsilon-Delta-Kriterium ist neben dem Folgenkriterium eine weitere Variante, die Stetigkeit einer Funktion zu definieren. Sie umschreibt die charakteristische Eigenschaft stetiger Funktionen, dass hinreichend kleine Änderungen des Arguments beliebig kleine Änderungen im Funktionswert verursachen.
Motivation
Zu Beginn des Kapitels haben wir gelernt, dass die Stetigkeit einer Funktion zumindest vereinfacht als Abwesenheit von Sprüngen interpretiert werden kann. An einer stetigen Stelle ändern sich die Funktionswerte also beliebig wenig, wenn nur das Argument hinreichend wenig geändert wird. Es gilt also , wenn hinreichend nah an liegt. Solche Funktionswerte können zur Annäherung von herangezogen werden.
Stetigkeit bei Approximation von Funktionswerten
Hat eine Funktion keine Sprünge, kann man ihre Funktionswerte durch umliegende Werte approximieren. Für diese Annäherung und somit auch für den Beweis der Stetigkeit verwenden wir das Epsilon-Delta-Kriterium stetiger Funktionen. Doch was bedeutet das genau?
Nehmen wir an, wir führen ein Experiment durch, bei dem wir die Lufttemperatur messen wollen. Sei die Funktion für den Temperaturverlauf. ist also die Temperatur zum Zeitpunkt . Aufgrund eines technischen Fehlers fehlt uns ein bestimmter Wert , den wir nun möglichst genau approximieren wollen:

Durch den technischen Fehler war die direkte Messung von nicht möglich. Weil sich der Temperaturverlauf kontinuierlich ändert und es damit insbesondere zum Zeitpunkt keinen Sprung im Temperaturverlauf gibt, können wir ersatzweise die Temperatur zeitnah an bestimmen. Wir nähern also den Wert an, indem wir eine Temperatur bestimmen, bei der der Zeitpunkt nah an liegt. ist dann eine Annäherung von . Wie nah muss hierzu an liegen?
Nehmen wir an, dass sich für die spätere Auswertung die gemessene Temperatur maximal um den Fehler von der tatsächlichen Temperatur unterscheiden darf. Unser Messwert muss sich also im grau hinterlegten Bereich der folgenden Grafik befinden. Das sind alle Punkte, deren Funktionswerte zwischen und liegen, die sich also im offenen Intervall befinden:

In der Graphik sehen wir, dass es um einen Bereich gibt, in dem sich die Funktionswerte maximal um von unterscheiden. Es gibt also einen Zeitabstand , so dass alle Funktionswerte mit Argumenten im Intervall im grau hinterlegten Bereich liegen:

Es ist also möglich, unseren gesuchten Wert ausreichend gut (sprich mit einem Maximalfehler von ) zu approximieren. Wenn wir nämlich einen Zeitpunkt mit einem Abstand von kleiner als den Zeitabstand wählen, so ist der Abstand von zu kleiner als der geforderte Maximalabstand . Wir können so als Annäherung von wählen.
Erhöhte Anforderungen an die Approximation
Was passiert, wenn wir bei unserer Messung aufgrund erhöhter Anforderungen an die Auswertung den Temperaturwert besser kennen müssen? Was ist, wenn beispielsweise der geforderte Maximalfehler der Temperaturmessung nun und nicht mehr ist?

Auch in diesem Fall gibt es einen Bereich um , in dem sich die Funktionswerte weniger als von unterscheiden. Es gibt also ein , so dass sich um maximal von unterscheidet, wenn ist:

Egal wie klein gewählt wird, es kann wegen des kontinuierlichen Temperaturverlaufes immer ein gefunden werden, so dass sich um maximal von unterscheidet, wenn der Abstand von zu kleiner als ist. Es gilt:
Der obige Umstand ist deswegen erfüllt, weil die Funktion bei kontinuierlich verläuft und keinen Sprung macht oder – anders formuliert – weil die Funktion an der Stelle stetig ist. Es gilt sogar mehr: Dieser Umstand charakterisiert auf eine formale Art die Tatsache, dass es bei keinen Sprung im Funktionsgraphen von gibt. Wir können ihn also als formale Definition der Stetigkeit nutzen. Wegen der auftretenden Variablen und wird diese Definition das Epsilon-Delta-Kriterium der Stetigkeit genannt.
Epsilon-Delta-Kriterium der Stetigkeit
Warum gilt das Epsilon-Delta-Kriterium genau dann, wenn der Funktionsgraph an der entsprechenden Stelle keinen Sprung macht (also an dieser Stelle stetig ist)? Am Beispiel des Temperaturverlaufs konnten wir intuitiv nachvollziehen, dass das Epsilon-Delta-Kriterium bei stetigen Funktionen erfüllt ist. Ist es auch so, dass bei Sprüngen an einer Stelle im Funktionsgraphen das Epsilon-Delta-Kriterium nicht erfüllt ist? Nehmen wir nun hypothetisch an, dass der Temperaturverlauf an der Stelle einen Sprung macht:

Sei nun ein Maximalfehler, der kleiner als die Sprungweite ist:

Dann können wir keinen -Bereich um finden, in dem alle Funktionswerte einen Abstand kleiner als von besitzen. Wenn wir beispielsweise das folgende wählen, dann gibt es ein zwischen und , welches einen Abstand größer als von besitzt:

Auch wenn wir ein kleineres wählen, findet sich ein mit :

Egal wie klein ist, es gibt immer mindestens ein Argument mit einen Abstand kleiner als von , dessen Funktionswert sich mehr als um unterscheidet. So sehen wir intuitiv, dass das Epsilon-Delta-Kriterium bei Sprüngen im Graphen nicht erfüllt ist. Damit charakterisiert das Epsilon-Delta-Kriterium die Tatsache, dass der Funktionsgraph an der betrachteten Stelle keinen Sprung macht. Es ist eine Definition der Stetigkeit. Da in diesem Kriterium nur bereits definierte mathematische Begriffe verwendet werden, genügt es den Anforderungen einer formalen Definition.
Definition
Epsilon-Delta-Kriterium der Stetigkeit
Datei:Stetigkeit. Epsilon-Delta-Definition - Quatematik.webm Die - Definition der Stetigkeit an einer Stelle im Definitionsbereich lautet:
<section begin="Definition"/>Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Definition<section end="Definition"/>
Erläuterung der Quantorenschreibweise:
Die obige Definition beschreibt die Stetigkeit an einem Punkt. Eine Funktion nennt man stetig, wenn sie an jedem Punkt in ihrem Definitionsbereich nach dem Epsilon-Delta-Kriterium stetig ist.
Herleitung des Epsilon-Delta-Kriterium für Unstetigkeit
Durch Negation der obigen Definition erhalten wir das Epsilon-Delta-Kriterium der Unstetigkeit. Im Kapitel „Aussagen negieren“ haben wir besprochen, wie mathematische Aussagen negiert werden können. Dabei wird aus dem Allquantor ein Existenzquantor und umgekehrt. Bei der inneren Implikation müssen wir beachten, dass die Negation von äquivalent zur Aussage ist. Wenn wir das Epsilon-Delta-Kriterium der Stetigkeit negieren, erhalten wir:
Damit erhalten wir als Negation der Stetigkeit:
Epsilon-Delta-Kriterium für Unstetigkeit
<section begin="Definition:Unstetigkeit" />Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Definition<section end="Definition:Unstetigkeit" />
Erläuterung der Quantorenschreibweise:
Erklärungen zum Epsilon-Delta-Kriterium
Die Ungleichung bedeutet, dass der Abstand zwischen und kleiner als ist. Analog ist gleichbedeutend damit, dass der Abstand zwischen und kleiner als ist. Aus der Implikation folgt damit, dass der Abstand zwischen und garantiert kleiner als ist, wenn der Abstand zwischen und kleiner als ist. Die Epsilon-Delta-Definition der Stetigkeit kann somit auch folgendermaßen interpretiert werden:
Bei stetigen Funktionen kann man also den Fehler – sprich den Abstand – in den Funktionswerten kontrollieren, indem man den Abstand in den Argumenten hinreichend klein hält. Die Suche nach dem entspricht der Beantwortung der Frage: Wie klein muss ich den Abstand im Argument wählen, damit der Abstand im Funktionswert maximal ist? Diese Frage ist durchaus relevant. Stell dir vor, du erhebst einen Messwert und berechnest damit einen Wert über eine stetige Funktion . Dann kannst du einen Argumentenfehler bestimmen, der dir garantiert, dass der Endfehler der Berechnung garantiert kleiner als ist, wenn der Fehler im Argument kleiner als ist.
Ein kann nur dann gefunden werden, wenn kleine Änderungen des Arguments kleine Änderungen des Funktionswertes verursachen. Bei stetigen Funktionen an der Stelle muss also gelten:
Diese Implikation muss man so lesen: Wenn hinreichend nah an liegt, dann ist ungefähr . Diese Tatsache kann auch mit dem Begriff der -Umgebung beschrieben werden:
Diese Beschreibung wird in der Topologie weiter verallgemeinert und führt zur topologischen Definition der Stetigkeit.
Visuelle Interpretation des Epsilon-Delta-Kriteriums
Beschreibung der Stetigkeit im Graphen
Das Epsilon-Delta-Kriterium kann gut im Graphen visualisiert werden. Wir starten hier mit der Implikation . Nach ihr ist der Abstand von zu kleiner als Epsilon, wenn der Abstand von zu kleiner als ist. Sprich: Für ist . Dies kann dadurch illustriert werden, dass der Punkt im Inneren des Rechtecks liegt. Dabei ist das Innere des Rechtecks mit Breite und der Höhe um den Mittelpunkt :

Dieses Rechteck werden wir im Folgenden --Rechteck nennen. Der Rand des Rechtecks gehört dabei nicht dazu. Nach dem Epsilon-Delta-Kriterium ist die Implikation für alle Argumente erfüllt. Damit müssen alle Punkte des Graphen von eingeschränkt auf die Argumente im Intervall im Inneren des --Rechtecks liegen (grüner Bereich in der folgenden Zeichnung) und dürfen sich nicht oberhalb oder unterhalb des Rechtecks befinden (roter Bereich):

Insgesamt kann das Epsilon-Delta-Kriterium folgendermaßen beschrieben werden:
Beispiel einer stetigen Funktion
Schauen wir uns dies am Beispiel der Funktion an. Diese Funktion ist an jeder Stelle stetig und damit insbesondere auch im Punkt . Es ist . Betrachten wir zunächst den maximalen Fehler um . Wir finden mit ein , so dass der Graph von im Inneren des --Rechtecks verläuft:

Nicht nur für , sondern zu jedem können wir ein angeben, so dass im Inneren und nicht ober- bzw. unterhalb des --Rechtecks liegt:
-
Für kann man wählen und der Graph verläuft im Inneren des --Rechtecks.
-
Im Fall von ist die Wahl von ausreichend, damit der Graph sich im Inneren des --Rechtecks befindet.
Beispiel einer unstetigen Funktion
Was passiert, wenn die Funktion unstetig ist? Nehmen wir die Vorzeichenfunktion , die im Nullpunkt unstetig ist:
So sieht der Graph der Vorzeichenfunktion aus:

Am Graphen kann man schon intuitiv erkennen, dass bei dem Argument eine Unstetigkeitsstelle vorliegt. Hier schlägt auch unsere Visualisierungsmöglichkeit der Stetigkeit fehl. Wählt man ein , welches kleiner als die Sprunghöhe ist (also ein ), dann gibt es kein , so dass der Graph vollständig im Inneren des --Rechtecks verläuft. Wenn wir beispielsweise wählen, dann gibt es für jedes noch so kleine mindestens einen Funktionswert, der oberhalb bzw. unterhalb des --Rechtecks liegt:
-
Für gibt es bei der Vorzeichenfunktion für Funktionswerte, die oberhalb bzw. unterhalb des --Rechtecks liegen (rot eingezeichnete Punkte).
-
Auch für gibt es Punkte im Graphen, die sich oberhalb bzw. unterhalb des --Rechtecks befinden.
Abhängigkeiten der Variablen
Stetigkeit
Wir betrachten die Stetigkeit einer Funktion am Punkt . Zunächst wird ein beliebiges vorgegeben. Nun muss ein gefunden werden, so dass der Graph von eingeschränkt auf Argumente im Intervall komplett im Epsilon-Schlauch liegt. Hierzu muss das hinreichend klein gewählt werden. Wenn zu groß ist, gibt es gegebenenfalls ein Argument in , bei dem einen Abstand größer als von aufweist:
-
Wenn bei einem vorgegebenen ein zu großes gewählt wird, können Funktionswerte ober- beziehungsweise unterhalb des --Rechtecks liegen (hier rot markiert).
-
Wenn hinreichend klein ist, verläuft der Graph der Funktion im Inneren des --Rechtecks.
Wie klein gewählt werden muss, hängt von vielen Faktoren ab: Der betrachteten Funktion , dem vorgegebenen und dem Argument . Je nach Funktionsverlauf muss ein anderes gewählt werden. Im Allgemeinen muss auch bei einem kleineren ein kleineres gewählt werden. Dies zeigen die folgenden Diagramme. Hier ist die Quadratfunktion abgebildet, welche bei stetig ist. Bei einem kleineren fällt die Wahl des kleiner aus:

Auch von der betrachteten Stelle hängt das ab. Je stärker sich eine Funktion in der Umgebung der betrachteten Stelle ändert, desto kleiner muss gewählt werden. In der folgenden Grafik ist der gefundene -Wert zwar für ausreichend klein, für ist er jedoch zu groß:

In der Umgebung von ändert sich die Funktion stärker als in der Umgebung um . Daher müssen wir das für kleiner wählen. Wir bezeichnen die -Werte an den Punkten und entsprechend mit und und wählen kleiner als vorher:

Wir haben gesehen, dass die Wahl von von der betrachteten Funktion , der betrachteten Stelle und dem vorgegebenen abhängt.
Unstetigkeit
Im Fall der Unstetigkeit ändern sich die Zusammenhänge der Variablen untereinander. Dies liegt daran, dass bei der Negation die Quantoren vertauscht werden. Um die Unstetigkeit zu zeigen, muss zunächst ein gefunden werden, bei dem für kein der Graph von komplett im Inneren des --Rechtecks verläuft. Hierzu muss hinreichend klein sein. Wenn beispielsweise die Unstetigkeit durch einen Sprung hervorgerufen wird, sollte kleiner als die Sprunghöhe gewählt werden. Wenn zu groß ist, gibt es gegebenenfalls ein , so dass im Inneren des --Rechtecks liegt:
-
Wenn bei der Vorzeichenfunktion ein zu großes gewählt wird, gibt es ein , so dass die Vorzeichenfunktion komplett im Inneren des --Rechtecks verläuft.
-
Wenn klein genug ist, gibt es für alle Funktionswerte, die direkt ober- bzw. unterhalb des --Rechtecks liegen.
Welches gewählt werden muss, hängt vom Funktionsverlauf und der betrachteten Stelle ab. Nachdem gewählt wurde, wird beliebig vorgegeben. Nun muss es ein zwischen den Zahlen und geben, so dass einen Abstand größer gleich von aufweist. Der Punkt liegt also ober- bzw. unterhalb des --Rechtecks. Welches gewählt werden muss, hängt von vielen Parametern ab: Von dem und dem , dem Funktionsverlauf und der betrachteten Unstetigkeitsstelle.
Beispielaufgaben
Stetigkeit
<section begin="Aufgabe:Stetigkeit einer linearen Funktion" />Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Aufgabe<section end="Aufgabe:Stetigkeit einer linearen Funktion" />
Unstetigkeit
<section begin="Aufgabe:Unstetigkeit der Vorzeichenfunktion" />Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Aufgabe<section end="Aufgabe:Unstetigkeit der Vorzeichenfunktion" />
Zusammenhang mit dem Folgenkriterium
<section begin="Äquivalenz zum Folgenkriterium" />Es gibt zwei Definitionen der Stetigkeit: das Epsilon-Delta-Kriterium und das Folgenkriterium. Um zu zeigen, dass beide Definitionen das gleiche Konzept beschreiben, müssen wir beweisen, dass beide Kriterien äquivalent zueinander sind. Wenn das Folgenkriterium erfüllt ist, muss auch das Epsilon-Delta-Kriterium erfüllt sein und umgekehrt.
Epsilon-Delta-Kriterium impliziert Folgenkriterium
Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Satz
Folgenkriterium impliziert Epsilon-Delta-Kriterium
Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Satz<section end="Äquivalenz zum Folgenkriterium" />
Übungsaufgaben
Quadratfunktion
<section begin="Aufgabe:Quadratfunktion" />Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Aufgabe<section end="Aufgabe:Quadratfunktion" />
Verkettete Betragfunktion
<section begin="Aufgabe:Verkettete Betragsfunktion" />Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Aufgabe<section end="Aufgabe:Verkettete Betragsfunktion" />
Hyperbel
<section begin="Aufgabe:Hyperbel" />Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Aufgabe<section end="Aufgabe:Hyperbel" />
Verkettete Wurzelfunktion
{{#lst:Mathe für Nicht-Freaks: Komposition stetiger Funktionen|Aufgabe:Epsilon-Delta-Beweis für Stetigkeit einer Wurzelfunktion}}
Unstetigkeit der topologischen Sinusfunktion
<section begin="Aufgabe:Topologische Sinusfunktion"/>Mathe für Nicht-Freaks: Vorlage:Aufgabe<section end="Aufgabe:Topologische Sinusfunktion"/>
{{#invoke:Mathe für Nicht-Freaks/Seite|unten|überprüft=
- Stephan Kulla 10:30, 28. Jul. 2017 (CEST)}}