Das Mehrkörperproblem in der Astronomie/ Enge Begegnungen von Massenpunkten/ Dynamische Zeitskalen

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Ansatz

Die Simulationsbeispiele im vorausgegangenen Kapitel haben gezeigt, dass bei engen Begegnungen zweier Körper nicht nur der starke Anstieg der Anziehungskraft eine wichtige Rolle spielt, sondern auch die Festlegung des Intervalls Δt zwischen aufeinanderfolgenden Zeitschritten. Wie nun erörtert wird, stellt die schon im Grundlagenkapitel eingeführte dynamische Zeit hierfür die entscheidende Bezugsgröße dar. Für eine auf einer Kreisbahn mit Radius r umlaufende kleine Masse m wurde dort abgeleitet, dass Umlaufsdauer T, Geschwindigkeit v, Beschleunigung a und Ruck j folgendem Zusammenhang genügen:

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Anhand des Euler- und Leapfrog-Verfahrens wurde weiterhin gezeigt, dass der bei der Simulation einer Kreisbahn pro Schritt begangene relative Fehler Δr/r direkt mit dem Verhältnis Δt/T verknüpft ist:

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Für das Euler-Verfahren ist n = 2, für die Leapfrog-Methode n = 4. Diese Ergebnisse legen nahe, die Schrittweite Δt als einen kleinen Bruchteil γ von v/a bzw. a/j aufzufassen:

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Für jedes Mitglied eines Mehrkörpersystems liefert dieser Ansatz einen individuellen Wert für die optimale Schrittweite, welcher sich zudem während einer Simulation fortlaufend ändert. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein Konzept adaptiver Zeitschritte, welche auf jeden Massenpunkt einzeln zugeschnitten sind. Bevor dieser Gegenstand im nächsten Unterkapitel behandelt wird, sollen zuvor aber noch einige in der Praxis benutzte Verfahren zur Festlegung von Δt skizziert werden.

Praktische Definitionen der dynamischen Zeitskala

Verhältnis von Beschleunigung und Ruck

Tatsächlich schlugen Aarseth und Hoyle [1] bereits 1964 ein Kriterium vor, das genau obigen Überlegungen entspricht. Ihnen zufolge soll die Schrittweite der Zeit entsprechen, unterdessen sich die auf ein Objekt einwirkende Kraft bzw. Beschleunigung a um einen bestimmten Betrag Δa ändert. Die Autoren empfahlen:

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Die Änderung der Beschleunigung kann gemäß der Definition des Rucks durch Δa=jΔt ausgedrückt werden. Damit aber ist die zeitliche Schrittweite wie gewünscht als Bruchteil des Verhältnisses von Beschleunigung und Ruck gegeben:

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Für eine Kreisbahn entspricht dies wegen a/j=T/2π der Anforderung:

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Für eine Simulation der Erdbahn muss damit die Schrittweite kleiner als 1.74 Tage sein. Dies stimmt gut mit den im Kapitel "Allgemeine Lösungsmethoden" skizziertrn Tests überein, welche mit Schritten von 1 Tag erfolgreich waren, mit einem Δt von 10 Tagen jedoch scheiterten.

Im Falle eines sehr kleinen Rucks wird Δt unter Umständen sehr groß, was ebenfalls zu fehlerhaften Ergebnissen führen kann. Oft wird daher für Δt auch ein maximal zulässiger Wert festgelegt.

Umschlossene Dichte

Zemp und andere [2] schlugen 2007 einen Weg ein, der auf den ersten Blick nichts mit dem bisherigen Vorgehen zu tun hat. Weist ein Körper eine Entfernung r vom Schwerpunkt des Gesamtsystems auf und beträgt dessen mittlere Dichte innerhalb dieses Abstands ρ(r), so soll gelten:

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Ist die Massenverteilung des Ensembles radialsymmetrisch, so trägt effektiv nur die innerhalb von r gelegene Masse M(r) zur auf das Testobjekt wirkenden Kraft bei. Setzt man ρ(r)=M(r)/[(4π/3)r3] in obige Definition ein, so stellt sich heraus, dass die Schrittweite als Bruchteil der Umlaufszeit um die eingeschlossene Masse M(r) dargestellt ist.

Das Verfahren von Zemp und anderen vermeidet die Schwierigkeiten, welche bei Aarseths und Hoyles Ansatz mit sehr kleinen Rucks einhergehen können. Andererseits ist die Dichte in Mehrkörpersystemen zumeist nicht radialsymmetrisch verteilt und oft erheblichen lokalen Schwankungen unterworfen. Die Autoren haben daher einen auf ein hierarchisches Gitter beruhenden Algorithmus entwickelt, der solchen Fluktuationen Rechnung trägt. Kommen zwei Massen m1 und m2 sich bis auf einen kleinen Abstand r12 nahe, dient ρ12=(m1+m2)/r123 als Maß für die lokale Dichte. Überwiegt ρ12 der Dichte auf größerer Raumskala, so wird die lokale Dichte für die Festlegung von Δt herangezogen.

Dynamische Zeit und Plummerradius

Am Ende des letzten Unterkapitels wurde aufgezeigt, dass je nach dem erforderlichen Grad an Details für eine Mehrkörpersimulation zwei unterschiedliche Kriterien für die Abschätzung des die Glättung der Anziehungskraft bestimmenden Plummerradius ϵ zum Einsatz kommen. Dementsprechend existieren auch verschiedene Skalen für den kleinsten Wert für Δt, welcher im Verlauf einer solchen Modellierung zu erwarten ist.

Berücksichtigung lokaler Strukturen

Der Abstand r zwischen zwei Massenpunkten kann effektiv nicht kleiner als ϵ werden. Sofern nahe Vorübergänge berücksichtigt werden müssen, gilt für den Plummerradius ϵ=R/N und damit für die kleinste dynamische Zeit

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Für die Plejaden liegt der Plummerradius bei etwa 250 Astronomischen Einheiten. Mit einer typischen Masse m von einer Sonnenmasse folgt daraus eine minimale dynamische Zeit von ungefähr 3800 Jahren. Die empfohlene Schrittweite von etwa 0.5 Prozent dieser Zeitskala liegt dann bei circa 19 Jahren. Für 47 Tucanae beträgt ϵ nur ungefähr 4 Astronomischen Einheiten. Mit einer charakteristischen Masse von einer halben Sonnenmasse kann die dynamische Zeit bis auf lediglich 11 Jahre und das empfohlene Δt auf circa 0.05 Jahre fallen.

Diese Schätzungen zeigen, dass insbesondere für Systeme mit einer hohen Anzahldichte die für eine stabile Simulation erforderlichen Schrittweiten Δt sehr klein werden können. Um die Entwicklung eines solchen Ensembles über eine bestimmte Gesamtzeit zur verfolgen, sind ohne spezielle Algorithmen dementsprechend viele Einzelschritte und damit lange Rechenzeiten erforderlich. Die Anzahl S einzelner Simulationsschritte ist umgekehrt proportional der Schrittweite und damit auch der dynamischen Zeit. Damit besteht zwischen S und der Anzahl N der Mitglieder folgender Zusammenhang:

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Bringt man innerhalb des gleichen Radius 10 Mal soviele Körper unter, werden für eine Simulation über die gleiche Gesamtzeit etwa 30 Mal mehr Schritte benötigt. Allerdings brauchen mit individuellen Zeitschritten pro Massenpunkt in Gebieten geringer Dichte nicht soviele Berechnungen durchgeführt zu werden wie in solchen hoher Dichte.

Behandlung von Großstrukturen

Dürfen enge Begegnungen vernachlässigt werden, so ist nur ein Plummerradius ϵ=R/N erforderlich. Dies entspricht einer kleinsten dynamischen Zeit

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Für eine mit 1 Million Massenpunkten simulierte Galaxie eines Radius von 20000 Parsec beträgt der Plummerradius 20 Parsec. Nimmt man 1 Million Sonnenmassen pro Massenpunkt an, so beträgt die entsprechende dynamische Zeit ungefähr 260 Millionen Jahre und die dazugehörige Schrittweite 1.3 Millionen Jahre.

Die für eine Simulation erforderliche Anzahl einzelner Zeitschritte wächst nun weniger rasch mit der Anzahl der Körper. Es gilt

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Bei einer Verdichtung um das 10-fache sind jetzt nur 6 Mal mehr Einzelschritte erforderlich. Damit aber bleibt es immer noch fundamental, mit an lokalen Dichteverhältnissen angepassten Zeitschritten zu arbeiten.


Einzelnachweise

  1. Aarseth S.J. und Hoyle F., An assessment of the present state of the gravitational N-body problem, in: Astrophysica Norvegica Band 9, S.313 ff, 1964
  2. Zemp M., Stadel J., Moore B. und Carollo C.M., An optimum time-stepping scheme for N-body simulations, in: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society Band 376, S.273 ff, 2007