Varianten der klassischen Mechanik/ Erweiterung auf Vielteilchensysteme: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 27. Januar 2018, 05:51 Uhr
Bisher haben wir uns bei den Betrachtungen auf eindimensionale Einteilchensysteme beschränkt. Die Einschränkung auf eine Dimension lassen wir auch weiter bestehen, um die auftretenden Gleichungen bzw. Formeln übersichtlich zu halten. In diesem Kapitel werden wir aber statt nur ein Teilchen sogar allgemein N miteinander wechselwirkende Teilchen am Beispiel gekoppelter harmonischer Oszillatoren diskutieren. Dieses System werden wir mittels Newton'scher, Lagrange'scher und Hamilton'scher Mechanik untersuchen. Jenes Beispiel ist geeignet, um zu verdeutlichen, dass sich im Rahmen der Lagrange'schen oder Hamilton'schen Mechanik, in denen ja Energiebetrachtungen (also skalare Größen) im Mittelpunkt stehen, die Bewegungsgleichungen mit weniger Mühe aufstellen lassen als in der Newton'schen Mechanik, in der ja vektorielle Größen wie Kräfte betrachtet werden.
Eindimensionale Vielteilchensysteme
Unter miteinander wechselwirkenden Teilchen verstehen wir solche, die gegenseitig aufeinander Kräfte wirken lassen. Wenn es sich dabei nur um Kräfte handelt, die ein Teilchen i (i=1, ..., N) von den übrigen N-1 erfährt, spricht man von "inneren Kräften" (im Gegensatz zu den "äußeren Kräften" sonst). Eine "Paarkraft" liegt dann vor, wenn die Kraft eines Teilchens j auf ein Teilchen i absepariert werden kann. Wegen des dritten Newton'schen Axioms (actio = reactio) gilt dann:
d.h. die Kraft des j-ten auf das i-te
Teilchen ist betragsmäßig gleich jener () des
i-ten auf das j-te Teilchen, wirkt aber in die entgegengesetzte
Richtung. Bei Paarkräften erkennt man also sehr deutlich, dass die
Summe über alle inneren Kräfte verschwinden muss:
Hinter dem zweiten Gleichheitszeichen haben wir dabei im zweiten Summanden
(unter dem Summenzeichen) die Summationsindizes umbenannt: i
in j und umgekehrt. Schließlich haben wir von
Gebrauch gemacht.
Für eine Kraft , die ein Teilchen i von den übrigen N-1 Teilchen erfährt, also einer inneren Kraft, würde somit allgemein gelten:
Diese Kraft nimmt im Spezialfall der Paarkräfte
folgende Form an:
Ein System, in dem die Teilchen nur inneren Kräften unterliegen, führt
nach dem zweiten Newton'schen Axiom auf die Bewegungsgleichungen
Hierfür gilt wieder die Erhaltung des Gesamtimpulses:
Eine Erhaltung der Gesamtenergie existiert zusätzlich, wenn die Kräfte
Potentialkräfte sind:
Multiplikation von mit
(wobei die Masse des i-ten Teilchens sei)
und Einsetzen der Potentialkraft sowie Summation über alle N
Teilchen ergibt:
Dies ist tatsächlich der Energieerhaltungssatz:
Ein Beispiel für ein N-Teilchensystem, in dem auf die Teilchen
nur innere Kräfte wirken, die zudem Potentialkräfte sind, ist z.B.
das eindimensionale System, in dem jedes Teilchen mit seinem Nachbarn
über einer Feder verbunden wird. Der Einfachheit wegen nehmen wir
an, dass die Federn alle die gleiche Stärke D besitzen und die
Teilchen auch sonst identisch sind, also alle die gleiche Masse m
haben. Abgesehen vom ersten und letzten Teilchen wirkt auf ein Teilchen
i am Ort eine durch jeweils eine Feder
der Stärke D vom (i-1)-ten und (i+1)-ten Teilchen
am Ort bzw. übertragene
Kraft:
Diese Kraft ergibt sich aus dem Kräftegleichgewicht am Teilchen i,
das relativ zum Teilchen i-1 um
aus seiner Ruhelage ausgelenkt ist. Daher wirkt eine Rückstellkraft
auf das Teilchen i
in Richtung des Teilchens i-1. Das Teilchen i+1 ist relativ
zum i-ten Teilchen um aus seiner
Ruhelage ausgelenkt, weshalb auf das Erstere eine Kraft
in Richtung des i-ten Teilchens wirkt. Wegen des dritten Newton'schen
Axioms (actio = reactio) wirkt auf das Teilchen i betragsmäßig
genau die gleiche Kraft, jedoch in die entgegengesetzte Richtung,
also in Richtung des Teilchens i+1: .
Diese beiden Kräfte zusammen ergeben somit die gesamte Kraft ,
die Teilchen i von seinen Nachbarn i-1 bzw. i+1
erfährt.
Nur auf die Randteilchen i=1 bzw. i=N wirken andere Kräfte:
Dies könnte aber an mit
angeglichen werden, wenn die "Kette" ringförmig
geschlossen, also das erste Teilchen über eine Feder mit dem N-ten
Teilchen (statt z.B. mit einer feststehenden Wand) verbunden wird
(und dies zudem unter der Annahme, dass das Problem weiterhin eindimensional
bleibt, also dass das System nicht selbst eine Ringform annimmt: Nichtsdestotrotz werden wir im Folgenden von einer »ringförmigen Kette«
sprechen), so dass sinnvoller Weise bzw.
definiert werden: Dies sind die sog.
"periodischen Randbedingungen" und ermöglichen
es, die Formel für die Kräfte mit
auch auf die Teilchen i=1 und i=N anzuwenden, wovon
wir im Folgenden ausgehen werden (und erst jetzt können wir auch bei
den Kräften auf das erste Teilchen von "inneren Kräften"
sprechen).
Das Aufstellen von Kräftegleichgewichten ist wegen des vektoriellen Charakters einer Kraft eher schwierig. Von der potentiellen Energie auszugehen, ist hingegen wegen ihres skalaren Charakters insbesondere dann einfach, wenn es sich um Paarkräfte handelt, die mit Hilfe eines "Paarpotenzials" dargestellt werden können. Ein solches Potenzial besitzt die Gestalt
und setzt sich aus Summen über Zwei-Teilchen-Potenziale
zusammen. Für eine Kraft auf das Teilchen k
gilt:
Wenn noch zusätzlich die Symmetrie-Eigenschaft
gültig sei, dann wird aus
worin wir wieder die Paarkräfte zwischen zwei
Teilchen eingeführt haben:
Wegen der Symmetrie-Eigenschaft können wir
auch folgendermaßen darstellen:
Der Faktor 1/2 dient hier genauso wie zuvor die Bedingung i<j
dem Zweck, eine Doppelzählung zu vermeiden.
Für die ringförmige Kette, die aus sich abwechselnden Teilchen und Federn besteht, ist von der Gestalt
Ein Teilchen i ist aber ausschließlich an seine beiden nächsten
Nachbarn (also Teilchen i-1 und i+1 und nicht noch zusätzlich
mit den restlichen N-3 Teilchen) gekoppelt. Daher vereinfacht
sich zu
wobei wir hier die periodischen Randbedingungen berücksichtigt haben.
Hieraus folgt wiederum die bereits zitierte Kraft auf ein Teilchen
k:
Bisher sind wir nur von der Newton'schen Mechanik ausgegangen, um
Bewegungsgleichungen für ein Viel-Teilchen-System aufzustellen. Das
d'Alembert'sche Prinzip der virtuellen Arbeit lässt sich auf ein N-Teilchensystem
ausdehnen lässt:
Da Arbeit bzw. Energie eine skalare Größe ist, wird sie wie gewohnt
(skalar) addiert: Dies geschieht hier über alle N Teilchen.
Die virtuellen Verrückungen
der individuellen Teilchen sollen dabei als voneinander unabhängig
angesehen werden (da sie zu individuell beweglichen Teilchen gehören
sollen - also ganz im Gegenteil zu den Teilchen in einem starren Körper),
sodass sich aus dem d'Alembert'schen Prinzip die N Bewegungsgleichungen
ergeben: Denn in diesem Fall wird jeder einzelne Vorfaktor der
für sich gleich Null.
Das d'Alembert'sche Prinzip kann wieder als Ausgangspunkt für die Herleitung der Lagrange'schen Mechanik gewählt werden: So wie wir dies ja bereits bei eindimensionalen Einteilchen-Systemen gezeigt haben. An den Einteilchen-Größen ändert sich dabei im Wesentlichen nichts, außer dass sie statt von einer Koordinate q bzw. einer Geschwindigkeit von M=N dieser Größen, nämlich für jedes Teilchen eins, also von bzw. mit abhängen. Dies gilt auch für die Koordinatentransformation: . Für die virtuellen Verrückungen ergibt sich daher mit M=N.
Dies führt z.B. dazu, dass wir Summen über die Einteilchen-Größe der kinetischen Energien (für ) erhalten, die wir aber zu einer N-Teilchen-Größe zusammenfassen können:
wobei wir mit
(und analog hierzu ) meinen
sowie dem einzelnen Teilchen i eine individuelle Masse
zugeordnet haben. Für Kräfte, die sich als eine Summe aus Potenzial-
und Nicht-Potenzialkräften darstellen lassen,
mit ,
entsteht die Gleichung
Hierin ist die Anzahl M der neuen Koordinaten
(wie bereits gesagt) gleich der Anzahl der alten Koordinaten ,
nämlich gleich der Teilchenzahl N: M=N (d.h. für
jedes Teilchen jeweils eine alte bzw. neue Koordinate). Da die virtuellen
Verrückungen wieder unabhängig voneinander
sind, folgen aus der zuletzt genannten Gleichung N Euler-Lagrange-Gleichungen:
Für reine Potenzialkräfte ist die reche Seite dieser Gleichung gleich
Null. Die (natürliche) Lagrangefunktion ist eine N-Teilchengröße
geworden:
mit .
Sinngemäß lassen sich so auch die übrigen Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel auf N-Teilchen-Systeme übertragen. Dies gilt auch für die Hamilton'sche Mechanik, die dann auf einer N-Teilchen-Hamiltonfunktion basiert:
die auf diese Weise aus der N-Teilchen-Lagrangefunktion gebildet
werden kann. Die Geschwindigkeiten haben wir dabei mit
und die kanonischen Impulse
mit bezeichnet. Letzterer folgt gleichermaßen aus der N-Teilchen-Lagrangefunktion:
Mit der Hamiltonfunktion ergeben sich dann die Hamilton'schen Bewegungsgleichungen
des N-Teilchensystems:
für .
In unserem Beispiel einer linearen Kette aus N über (identische) Federn miteinander verbundenen Massen (gleicher Größe) folgt die kinetische N-Teilchen-Energie zu
Wenn wir periodische Randbedingungen fordern (und eine identische
Transformation betrachten), dann erhalten
wir wieder die potentielle Energie
Die (natürliche) N-Teilchen-Lagrangefunktion lautet dann
Mittels der Euler-Lagrange-Gleichungen ergeben sich hieraus erneut
die N Bewegungsgleichungen
Die N kanonischen Impulse lauten
Die Hamiltonfunktion ergibt sich dann zu
Hiermit lassen sich die Hamilton'schen Bewegungsgleichungen aufstellen:
Bei der Lagrangefunktion erkennen wir übrigens, dass diese invariant
unter einer für alle Teilchenkoordinaten gleiche Translation
ist, wobei eine Konstante ist und s
einen zeitunabhängigen Parameter darstellt. Nach dem Satz von Emmy
Noether muss dann die Größe
eine Konstante der Bewegung sein. Abgesehen vom konstanten Faktor
ist dies offensichtlich der Gesamtimpuls.
Jetzt haben wir zwar die Bewegungsgleichungen des N-Teilchenproblems auf vier unterschiedliche Weisen gewinnen können, aber diese leider immer noch nicht gelöst. Dies scheint auch gar nicht so einfach zu sein, da die N Gleichungen ja offensichtlich miteinander gekoppelt sind: Die Bewegungsgleichung für das Teilchen i ist auch abhängig von den Auslenkungen , seiner beiden nächsten Nachbarteilchen i+1 und i-1. Es ist aber dennoch eines der Beispiele von Bewegungsgleichungen eines N-Teilchensystems, die durch eine geschickte Wahl der Koordinaten entkoppelt werden können. Aus ihnen werden dann N voneinander unabhängige harmonische Oszillatoren, was im Folgenden gezeigt werden soll.
Eine Koordinate setzten wir folgendermaßen an:
wobei der Abstand zwischen zwei benachbarten Teilchen
in ihren Ruhelagen ist. Aus der periodischen Randbedingung
folgt:
was zur Forderung
führt. Da der Kosinus bei ganzzahligen Vielfachen von
gleich Eins wird und der Sinus verschwindet, gilt für die sog. "Wellenzahl"
:
wobei l für eine ganze Zahl steht. Die Funktion
besitzt noch folgende weitere Eigenschaften:
Die Koordinate muss eine reelle Größe sein:
sodass
erfüllt sein muss. Setzen wir nun den Ausdruck für unsere transformierten
Koordinaten in die Bewegungsgleichungen
ein, so erhalten wir:
Hieraus schließen wir auf die Bewegungsgleichungen in den neuen Koordinaten
:
mit der Frequenz
die eine sog. "Dispersionsrelation" darstellt,
also eine Beziehung zwischen einer Frequenz (nämlich jener der N
harmonischen Oszillatoren) und einer Wellenzahl
ist. Wir haben durch die Koordinatentransformation somit tatsächlich
Bewegungsgleichungen für N ungekoppelte harmonische Oszillatoren
erhalten, deren Lösungen uns ja bereits bekannt sind. Das hier betrachtete
Beispiel dient in der Festkörperphysik als einfachste (da eindimensionale)
Veranschaulichung von Gitterschwingungen: Die Teilchen stellen dort
Gitteratome dar, die in einer ersten Näherung gegenseitig nur auf
ihre nächsten Nachbarn Kräfte wirken lassen, deren Stärke proportional
zur Auslenkung der Gitteratome aus ihrer Ruhelage anwächst. Mit Hilfe
der periodischen Randbedingungen erreicht man ein quasi "unendlich"
großes/ langes Atomgitter, in dem somit "Randeffekte"
keine Rolle spielen dürften.
Der Liouville'sche Satz
In der Literatur wird im Zusammenhang mit den kanonischen Transformationen oft der Satz von Liouville zitiert. Dieser besagt im Wesentlichen, dass sich das sog. "Phasenraumvolumen" im Laufe der Zeit nicht verändert. Ein Punkt im sog. "Phasenraum" zu einer Zeit t wird für ein eindimensionales System, auf das wir uns hier wieder der Einfachheit wegen beschränken werden, durch ein Koordinatenpaar charakterisiert. Zu einem etwas späteren Zeitpunkt , nämlich nach einer infinitesimal kleinen zeitlichen Änderung dt, befinde sich das System im Phasenraumpunkt . Die neuen Koordinaten gehen also aus den alten durch eine infinitesimale Verschiebung mit der Zeit hervor:
Dieses infinitesimale Fortschreiten mit der Zeit kann auch als kanonische
Transformation aufgefasst werden, da die Poissonklammer
bis einschließlich der Ordnung dt gleich Eins ist:
weil
- ,
- ,
- ,
in die Poissonklammer eingesetzt, einen Koeffizienten von dt erzeugen.
Das sog. (infinitesimale) "Phasenraumvolumen" bleibt bei dieser infinitesimalen Zeitverschiebung unverändert:
weil hier für die Jacobi-Determinante (oder Funktionaldeterminante)
gilt.
Der Satz von Liouville besitzt insbesondere in der statistischen Mechanik große Bedeutung, wo mit sog. "Wahrscheinlichkeitsdichten" gearbeitet wird, die etwas darüber aussagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit in einem Vielteilchensystem zu einer bestimmten Zeit t ein Teilchen im Phasenraumpunkt vorzufinden ist. Die Wahrscheinlichkeit, ein solches System zur Zeit t in einem beliebigen Phasenraumpunkt vorzufinden, muss Eins sein, was sich folgendermaßen formulieren lässt:
d.h. es wird über die Wahrscheinlichkeiten aller Phasenraumpunkte
summiert. Diese Normierungsbedingung für die Wahrscheinlichkeitsdichte
muss für alle Zeiten gelten, was infinitesimal bedeutet, dass
folgende Eigenschaft der Wahrscheinlichkeitsdichte erfüllt sein muss:
was wegen auf
führt. Entwickeln wir jetzt um dt, dann
erhalten wir hieraus (bis einschließlich der Ordnung ):
woraus wiederum
folgt. Hieraus ergibt sich eine sog. "Kontinuitätsgleichung"
, die sog. "Liouville'sche Gleichung",
was sich durch Umstellen und mit Hilfe der Hamilton'schen Gleichungen
,
zeigen lässt:
weil
Wegen der Hamilton'schen Gleichungen kann die Liouville'sche Gleichung
aber auch mittels Poissonklammer ausgedrückt werden:
Die Kontinuitätsgleichung lässt sich mit Hilfe des Phasenraumvektors
und der Phasenraumgeschwindigkeit sowie mittels Nabla-Operator sehr einfach darstellen
Wird über das gesamte Phasenraumvolumen V integriert, resultiert
aus der Kontinuitätsgleichung mit Hilfe des Gauß'schen Satzes
wobei im letzten Schritt angenommen wurde, dass der Integrand auf
dem Rand des Phasenraumvolumens V
verschwindet. Die Wahrscheinlichkeit ,
das System in einem beliebigen Phasenraumpunkt vorzufinden, hängt
also nicht explizit von der Zeit ab, sondern ist zeitlich konstant.
Da diese Konstante zum Zeitpunkt t nach Voraussetzung Eins war,
ist sie es auch für alle Zeiten.
Im sog. "thermodynamischen Gleichgewicht" soll die Wahrscheinlichkeitsdichte nicht mehr explizit von der Zeit abhängen:
Dies ist nach der Liouville'schen Gleichung unter der (hinreichenden
aber nicht unbedingt notwendigen) Bedingung
erfüllt, was sich mit Hilfe der Hamilton'schen Gleichungen und der
Kettenregel zeigen lässt:
Dies ist ein möglicher Ausgangspunkt für die statistische Mechanik,
in deren Rahmen u.a. Beispiele für jene Wahrscheinlichkeitsdichten
präsentiert werden.